So langsam kommt der Twitter-Hype auch in Deutschland an und die deutsche Blogosphäre scheint sich kollektiv „WTF?“ zu fragen. Wie kann ein Dienst, in dem ich den letzten Rest meiner Privatsphäre preisgebe und ständig poste, was ich gerade mache, so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Sowas mag uns einfach nicht in die konservativen, kritischen Köpfe.
Für alle, dies noch nicht mitbekommen habe, Twitter ist ein neuer Webdienst von Blogger-Gründer und Odeo-Macher Evan Williams. Der Dienst ist sowas wie die Statusmeldung in AIM oder die Mood-Message in Skype, nur dass das ganze in einer Art Blog dargestellt wird. Ich habe 140 Zeichen pro Nachricht, um zu schreiben was immer ich will. Die wenigsten schreiben ausschließlich, was sie gerade machen. Viele posten URLs zu interessanten Diskussionen oder lustigen Videos. Man kann die Nachrichten entweder im Web lesen oder schreiben oder per SMS auf dem Handy empfangen oder schreiben. Dazu gibt es inzwischen einige Tools, die das ganze aus dem Web auf den Rechner holen. Ich nutze Twitterrific.
Nach zwei Monaten, die ich jetzt Twitter nutze, will ich mal ein paar Thesen aufstellen, warum das Ding aus meiner Sicht gerade so abgeht:
- Erstmal war ich gerade überrascht, als ich festgestellt habe, dass ich tatsächlich schon seit zwei Monaten Twitter nutze. Als ich mich Anfang Januar angemeldet habe hielt ich Twitter für das nächste Web-2.0-Spielzeug, das ich für eine Woche nutzen würde und dann nicht mehr. Nun sind zwei Monate vorbei und ich halte es immer noch für ein Spielzeug, aber für eins, das irgendwie verdammt Spaß macht.
- Twitter ist insbesondere in der Web-2.0-Community von San Franzisko eingeschlagen. Dort scheint Twitter mehr und mehr als Kommunikationstool für die Community genutzt zu werden. Ständig liest man: „Gehen jetzt zu blabla-Bar, falls jemand vorbeischauen möchte…“ Auch wenn es auf den ersten Blick nicht dafür geeignet scheint, so wird Twitter auch immer häufiger neben der 1-to-many- für die 1-to-1-Kommunikation bzw. Diskussion genutzt, auch wenn alle dabei mitlesen können. Es ist einfach extrem schneller als ein Blogpost. Es ersetzt damit praktisch Kommentardiskussionen auf Blogs.
- Der Rest der Welt, würde ich behaupten, ist deswegen bei Twitter, um zu sehen, was die „Helden“ in Frisko so tun. Das ist zumindest für mich ein nicht geringer Faktor. Ich meine, ich lese den ganzen Tag Blogartikel, höre Podcasts und benutze die Webapps von diesen Leuten. Da will der kleine Voyeur in mir doch gerne auch mal wissen, was die den ganzen lieben langen Alltag so beschäftigt. Mir ist relativ egal, wann z.B. Robert Scoble kacken geht, aber mit welchen Themen er seinen Alltag verbringt und wo er so rumschippert interessiert mich schon. Oder Leo Laporte, von dem ich ein großer Fan bin. Wann nimmt er eigentlich die tausend Podcasts auf, die er pro Woche zu produzieren scheint? Der Produktivitätsfreak in mir ist ein ausgemachter Voyeur, weil er denkt, dass er von erfolgreichen Leuten noch was lernen kann. Deswegen liebe ich auch flickr-Bilder vom Arbeitszimmer oder was die Leute so in ihren Taschen rumtragen etc. Ich finde die Frage „Wie leben eigentlich andere Leute?“ spannend, das gebe ich gerne zu. Und Twitter liefert mir die Antwort.
- Nachtrag: Während ich so drüber nachdenke fällt mir der weiter unten erwähnte Vortrag von Kevin Rose (Gründer von digg) ein. Er meinte, dass die wichtigsten Features bei digg zur „selfexpression“ dienen, also alles, was einem User dabei hilft sich selbst auszudrücken und darzustellen. Deswegen kann man bei digg z.B. seine favorisierte Story prominent im eigenen Profil hervorheben. „Selfexpression“ ist wohl auch das Killerfeature für Twitter. Eigentlich geht’s um nichts anderes.
Im Moment macht mich Twitter allerdings eher traurig, weil scheinbar wirklich jeder außer mir in Austin bei SXSW ist.
Was mir an der „deutschen Sicht“ auf Twitter mal wieder auffällt, ist unsere komplette Unfähigkeit zu spielen. Wir hören von Twitter, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen ob des Verlustes unsrer Privatsphäre und fragen als nächstes, wie sich damit den bitte schön Geld verdienen lassen sollte. Deswegen sind deutsche Web-2.0-Applikationen in der Regel auch Kopien von mehr oder weniger erfolgreichen Applikationen aus der USA. Ich empfehle zu diesem Thema die FOWA-Vorträge von Mike Arrington, Tara Hunt und Kevin Rose. Wo wir gerade beim Podcastsempfehlen sind, hier ist eine Ausgabe von net@nite mit einem Interview mit Evan Williams.
Ach so, für meine Stalker: twitter.com/jkleske
Update: Kaum veröffentliche ich meine Gedanken zu Twitter tut Ross Mayfield es auch und natürlich viel tiefgehender. Erfahren habe ich davon, richtig, per Twitter 😉
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