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Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, erleben wir ein vertrautes Ritual: Die Veröffentlichung unzähliger Trendreports, die uns die Zukunft des kommenden Jahres erklären wollen. Mit mechanischer Regelmäßigkeit werden die aktuellen Buzzwords durchdekliniert – von Künstlicher Intelligenz über New Work bis zum Metaverse. Doch in dieser Flut von Zukunftsprognosen stellt sich eine grundsätzliche Frage: Was unterscheidet eigentlich einen echten Trendreport von einem elaborierten Marketinginstrument?
Die Grundlagen: Was echte Trendanalyse leisten muss
Ein Trendreport formuliert eine Hypothese über eine zukünftige Veränderung („eine Kombination von Faktoren wie Virtual Reality, Token-basierte Technologien und weitere könnte zu einem neuen Paradigma digitaler Infrastruktur führen, das derzeit als Metaverse bezeichnet wird“). Diese Hypothese basiert auf Mustern, die sich aus gegenwärtigen Signalen ableiten („zahlreiche Start-ups in diesem Bereich erhalten Finanzierung, virtuelle Welten werden weit über Gaming hinaus genutzt, etc.“). Und sie wird mit verschiedenen möglichen Entwicklungspfaden präsentiert („Es wird das Internet, wie wir es kennen, ersetzen. Es wird hauptsächlich ein Rebranding von Virtual Reality sein und den Weg von Second Life gehen. Es ist ein forcierter Vorstoß des Silicon Valley, der zu einer noch stärker ausgeprägten Cyberpunk-Realität führen wird“).
Die Realität der Trendreports: Marketing statt Erkenntnis
Die meisten sogenannten „Trendreports“ scheitern bereits an diesen grundlegenden Anforderungen. Sie präsentieren ihre Trendhypothesen als Vorhersagen („Das ist die Zukunft!“). Sie wählen Beispielfälle selektiv aus, um ihre Prognosen zu belegen, ohne sie zu hinterfragen. Und sie vermeiden bewusst alternative Entwicklungspfade, um den Trend als unausweichlich erscheinen zu lassen.
Diese Trendreports sind oft nicht mehr als eine Sammlung von Pressemitteilungen zu Beispielfällen, die keine praktisch verwertbaren Erkenntnisse liefern. Sie dienen lediglich dazu, die herausgebende Agentur oder Beratung als Zukunftsexperten zu positionieren. Dabei muss man sich fragen: Wie hilfreich ist ein Wegweiser, der nur die Schlagworte der Tech-Unternehmen nacherzählt?
Der Mechanismus der Trendreports: Zukunftsbilder als Machtinstrumente
Die Problematik oberflächlicher Trendreports geht über methodische Schwächen hinaus. Der Wirtschaftssoziologe Jens Beckert zeigt in seiner Forschung zu ‚fictional expectations‚, dass Zukunftsbilder in der Wirtschaft eine zentrale performative Rolle spielen: Sie koordinieren Entscheidungen unter Unsicherheit und können dadurch zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden.
Was auf den ersten Blick wie ein neutraler Analysebericht erscheint, ist in Wahrheit Teil einer ‚politics of expectations‘ – einem Kampf um die Deutungshoheit über die Zukunft. Nehmen wir aktuelle Beispiele: Die Welle an KI-Trend Reports scheint weniger der Orientierung zu dienen als der Durchsetzung bestimmter Zukunftsvisionen. Oder betrachten wir Zuckerbergs konstantes Storytelling zum Metaverse: Die medial inszenierten Keynotes und Milliarden-Investitionen sollen nicht nur die technische Entwicklung vorantreiben, sondern vor allem die ‚Unausweichlichkeit‘ dieser spezifischen Zukunftsvision demonstrieren.
Diese Dynamik verdeutlicht die zentrale Herausforderung: Je mehr Akteure ein bestimmtes Zukunftsbild übernehmen und ihre Entscheidungen daran ausrichten, desto größer wird ihr Einfluss auf die Entwicklung in diese Richtung. Hier setzt die kritische Zukunftsforschung an: Sie dekonstruiert diese scheinbar unvermeidlichen Zukunftsbilder und eröffnet damit Raum für alternative Entwicklungspfade.
Der Ausweg: Kritische Trendforschung als Alternative
Ein guter Trendreport untersucht einen Trend systematisch auf mehreren Ebenen:
- Er identifiziert Gegentrends und Widerstände, die das dominante Narrativ in einen größeren Zusammenhang einsortieren
- Er analysiert die unterliegenden, längerfristigen Treiber: Welche wirtschaftlichen Interessen, technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Dynamiken treiben den Trend wirklich?
- Er kontextualisiert die historische Entwicklung: An welche vergangenen Trends und Narrativen schließt die aktuelle Entwicklung an? Was können wir daraus lernen?
- Er deckt Machtstrukturen auf: Wer profitiert von der ‚Unausweichlichkeit‘ des Trends? Welche Stimmen werden ausgeblendet? Worüber sagt der Report sehr laut nichts?
Diese Art der kritischen Analyse erfordert mehr Arbeit als das simple Nacherzählen von Pressemitteilungen und Tech-Keynotes. Aber genau das macht sie wertvoll: Sie befähigt Organisationen, eigenständige strategische Entscheidungen zu treffen – statt nur die vorgegebenen Zukunftsnarrative der Tech-Giganten nachzubeten. Denn wer die dominanten Zukunftsbilder unreflektiert übernimmt, wird zwangsläufig zum Statisten in der Geschichte eines anderen.
Gerne helfe ich Ihnen bei dieser Arbeit!