
Wird Zeit, mich noch mal mit dem Hessenwahlkampf auseinander zu setzen. Denn gerade auf Seiten von Schäfer-Gümbel passiert einiges im Bereich Social Media. Insbesondere Twitter hat es ihm angetan, nachdem er zu Beginn den Dialog vor allem über YouTube gesucht hat. Als Social-Media-Stratege finde ich das natürlich erstmal richtig, weil ich zutiefst an die Konversationsmöglichkeiten dieser Plattformen glaube und ihre Potentiale für die Politik als ungemein hoch einstufe (jaja, Kunststück nach dem Obama-Wahlkampf).
Aber als jemand, der immer versucht, die Dinge im Ganzen wahrzunehmen, frage ich mich gerade „Hat Schäfer-Gümbel nichts besseres zu tun als zu twittern?“
So komme ich zu diesen geradezu blasphemischen Gedanken:
- Bei aller Liebe zu Twitter, aber es bedient als Medium nach wie vor eine kleine Nische innerhalb der deutschen Durchschnittsbevölkerung. Damit ist es derzeit vor allem gut, um mit einer jungen, 2.0-affinen Zielgruppe ins Gespräch zu kommen.
- Diese Zielgruppe wiederum würde ich mal dreist als eher links, offen und progressiv einschätzen. Und damit ist der hessische Anteil unter den Twitterusern, vorsichtig ausgedrückt, eher nicht der typische Koch-Wähler. Schäfer-Gümbels Konversation auf Twitter ist also quasi „preaching to the choir“.
- Ein neues Medium wie Twitter bringt eine gewisse Eingewöhnungszeit mit. Und auch ein affiner Politiker wie Schäfer-Gümbel braucht Zeit, um die Gepflogenheiten und Verhaltensregeln auf Twitter und anderen Social Apps zu lernen.
- Nun ist das besondere an diesem Wahlkampf, dass es überhaupt nur ein paar handvoll Wahlkampftage gibt. Außerdem sind die Kassen leer. Strategie kann es also nur sein, sehr genau die Prioritäten auf die Aktionen zu legen, die in kürzester Zeit die meisten Wähler in Hessen erreichen.
Und genau deswegen verstehe ich nicht, warum Schäfer-Gümbel seine überaus knappe Zeit in diesem Wahlkampf darauf verwendet, ein Nischenmedium zu bedienen, das er erst erlernen muss und das sowieso schon weitgehend kritisch seinem Gegenkandidat gegenüber steht.
Nichtsdestotrotz halte ich Schäfer-Gümbel für einen spannenden Politiker, der, ist das ganze Wahlkampfschlamassel erstmal vorbei, mit seiner gerade und bodenständigen Art den Neuanfang der Hessen SPD in die richtige Richtung schaffen kann. Und dabei werden ihm Dienste wie YouTube und Twitter sowie seine Offenheit und Lernwilligkeit im Umgang mit diesen eine große Hilfe sein. Außerdem steht ihm mit Oliver Zeisberger von Barracuda einer der besten deutschen Berater für Politik im Web zur Seite. Das lässt auf viel hoffen.
Übrigens, eine Strategie könnte ich mir vorstellen, bei der Schäfer-Gümbels aktuelle Twitter-Aktivität schon jetzt durchaus Sinn machen würde. Nämlich dann, wenn man mit beeindruckend hartem Realitätssinn die Wahl von vorneherein verloren gegeben hat und den Wahlkampf und die Aufmerksamkeit dazu nutzt, das Fundament für die Konversation zum Wiederaufbau zu legen. D.h. man priorisiert nicht die Aktionen, die am meisten kurzfristig Wähler mobilisieren sondern die, die langfristig Aufbauarbeit leisten.
Vor solch einer Strategie würde ich meinen Hut ziehen. Denn dafür braucht man Eier. Und wenn deutsche Politiker in der Regel eines nicht haben, dann…
Nachtrag: Ok, der Ehrlichkeit halber muss ich zugeben, dass es mir gar nicht in erster Linie darum geht, hier die Wahlkampf-Strategie der Hessen SPD zu kritisieren. Ich bin weder Mitglied irgendeiner Partei (wenn auch sehr, sehr politikinteressiert) noch Wähler in Hessen. Natürlich wünsche ich mir, dass Koch endlich gehen muss. Aber vor allem wünsche ich mir, dass wir gerade in der Social Sphäre (Twitter, Blogs, etc.) Social Media nicht immer als das Allheilmittel für alles sehen. Ich wundere mich etwas über die großen Jubelschreie, wenn es wieder ein Politiker auf Twitter geschafft hat. Als wäre das die Lösung, die immer funktioniert um Wahlen zu gewinnen und aus Politikern endlich gute Menschen zu machen. Aber wie bei allem ist Social Media eine Lösung, die nur eingebettet in eine Gesamtstrategie (gehet zu Obama und lernet von ihm) und auf diese abgestimmt in optimaler Kombination mit Lösungen aus anderen Bereichen ermöglichen kann, wozu sie das Potential hat. Und manchmal – aber nur manchmal – sind andere Lösungen die besseren…
Nachtrag 2: Unbedingt auch die Kommentare lesen. Das hier war nur der Diskussionsstarter.