Johannes Kleske

Zukünfte verstehen und gestalten

Hands-on statt Hype-Cycle: Der praktische Weg aus dem KI-Diskurs-Dilemma

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Wie konkrete Erfahrung die Grundlage für produktive Debatten schafft

Der KI-Spagat: Zwischen Philosophie und Praxis

„Wie schützen wir uns vor der existenziellen Bedrohung durch KI?“, fragt ein Experte auf einer Fachkonferenz. Währenddessen sprechen Millionen Menschen täglich mit ChatGPT und Claude über ihre mentale Gesundheit (Therapie ist der Top-Use-Case für generative KI 2025) und lassen sich Lektionen zum Lernen erstellen. Dieses Nebeneinander von philosophischen Grundsatzdebatten und pragmatischer Alltagsnutzung prägt den aktuellen Umgang mit Künstlicher Intelligenz und erzeugt eine bemerkenswerte Kluft.

Einerseits steht ein hochfliegender, abstrakter Theoriediskurs, der seit Jahren auf Konferenzbühnen, in Feuilletons und politischen Arenen kreist. Die immer gleichen existenziellen Fragen dominieren:

  • Wird die Menschheit ersetzt?
  • Wie verändert sich Arbeit?
  • Welche ethischen Grenzen müssen wir ziehen?

Auf der anderen Seite erleben wir – insbesondere seit dem ChatGPT-Moment Ende 2022 – eine rasant wachsende praktische Anwendung dieser Technologien im Alltag. Hier experimentieren Menschen ohne besondere technische Kompetenzen pragmatisch mit KI-Tools, integrieren sie in ihre Workflows und tauschen Erfahrungen aus. Laut aktuellen Daten von McKinsey nutzen inzwischen mehr als 53 % der C-Level-Führungskräfte mindestens ein KI-Tool regelmäßig in ihrem Arbeitsalltag (bei aller berechtigten Kritik an solchen Eigenberichtsstudien).

Was beim Versuch, sich in diesem Feld zu orientieren, zunehmend problematisch wird: Der festgefahrene abstrakte Theoriediskurs behindert aktiv die praxisorientierte Auseinandersetzung, ohne selbst voranzukommen. Das erzeugt Verwirrung, Polarisierung und eine massive Einstiegshürde für Menschen, die sich mit dem Thema konstruktiv auseinandersetzen wollen.

Meine These: Derzeit scheitern wir in beiden Dimensionen. Weder kommt der abstrakte Theoriediskurs über KI substanziell voran, noch können wir das Potenzial der konkreten praktischen Anwendungen genauso wie die tatsächlichen Probleme, die mit ihnen kommen, vollständig erschließen. Dies gilt, solange sie ständig von theoretischen Fundamentaldiskussionen überlagert werden.

Über eine Dekade zur Zukunft der Arbeit und KI

Buchtitel: Race Against The Machine

Meine persönliche Berührung mit dem KI-Diskurs begann 2012–2013, als ich meinen ersten Vortrag bei der re:publica vorbereitete und hielt. Die Kernfrage: Was würde passieren, wenn Maschinen in Zukunft auch geistige Arbeit übernehmen würden? Bis zu diesem Zeitpunkt stand beim Thema Arbeit und Automatisierung immer im Vordergrund, dass die Maschinen körperliche Arbeit übernehmen. Nun begann ein neuer Diskurs, ausgelöst vom Buch „Race Against The Machine“ von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, das diese Debatte wesentlich angestoßen hatte. Technologien aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz, damals vor allem Machine Learning, machten Anstalt, bald auch kognitive Arbeit übernehmen zu können.

Die Diskussion drehte sich zentral um die Frage, wie wir leben wollen, wenn auch ein Großteil der Kopf- bzw. Wissensarbeit automatisiert wird. So wurde die Vision eines „digitalen Athens“ – die Idee, dass Menschen, wenn Maschinen immer mehr Routinearbeit übernehmen würden, mehr Zeit für Kunst, Diskurs, Philosophie und Politik hätten – propagiert. Auch die Debatte um das Grundeinkommen bekam mehr Aufmerksamkeit.

Im Jahr 2015 hielt ich dann einen zweiten Vortrag zur re:publica. Dies geschah, nachdem von den gleichen Autoren das noch einflussreichere Buch „The Second Machine Age“ erschienen war, das diese Hoffnungen weiter befeuerte und auf eine noch breitere Bühne hob.

In meinen eigenen Recherchen hatte ich jedoch eine andere Seite entdeckt: Hinter vielen vermeintlich „magischen“ KI-Funktionen steckte in Wirklichkeit billige menschliche Arbeit. Die Forscherin Lilli Irani hatte dafür den treffenden Begriff „Datenhausmeister“ (data janitors) geprägt. Dies sind Clickworker, die für Minimallöhne dafür sorgen, dass das Kartenmaterial von Google Maps aufgeräumt wird oder Social-Media-Feeds frei von problematischen Inhalten bleiben.

Die Endlosschleife der Theorie

Was mich seit etwa 2015 ernüchtert, ist die Beobachtung, wie wenig sich dieser abstrakte Theoriediskurs seitdem tatsächlich weiterentwickelt hat. Die gleichen Argumentationslinien werden immer wieder aufgewärmt, die Beispiele lediglich leicht aktualisiert.

Das Muster bleibt bemerkenswert konsistent: Ein technologischer Durchbruch – sei es der Sieg von AlphaGo über die brillantesten Go-Spieler der Welt oder die Veröffentlichung von ChatGPT – wird sofort in zwei entgegengesetzte Richtungen extrapoliert. Die Optimisten proklamieren den Anbruch einer neuen Ära, während die Pessimisten apokalyptische Szenarien zeichnen.

Nach einigen Monaten folgt eine Phase der Ernüchterung, in der sich herausstellt, dass weder die utopischen noch die dystopischen Szenarien eingetreten sind. Und dann beginnt der Zyklus von vorn, ohne substantielle Evolution der Kernargumente.

Screenshot der Economist-Website mit dem Artikel „There is a vast hidden workforce behind AI“

Alle paar Monate erscheint der gleiche Aufregerartikel, dass Maschinen „jetzt aber wirklich“ alles übernehmen würden. Währenddessen ist in der aktuellen Ausgabe des Economist wieder zu lesen, wie auch für die neuesten KI-Systeme Clickworker im globalen Süden die Drecksarbeit machen (die wahre Bedeutung von „Human in the loop“).

Diese zyklische Natur des Diskurses – Durchbruch, Hype, apokalyptische Warnungen, Ernüchterung, Wiederholung – verhindert eine substantielle Weiterentwicklung der Debatte. Es entsteht der Eindruck eines Scheingefechts, das zwar rhetorisch brillant geführt wird, aber letztlich in seinen Grundannahmen stagniert.

Die Dynamik lässt sich – mit einer leichten Prise Ironie – in fünf Phasen verdichten:

PhaseTypische NarrativeDauer
Durchbruch„Verrückt, was das neue Modell kann!“1–2 Wochen
Hype„Die KI-Revolution ist da!“1–3 Monate
Warnung„Existenzielle Risiken für die Menschheit!“parallel zum Hype
Ernüchterung„Doch nicht so revolutionär wie gedacht.“3–6 Monate
WiederholungNeuer Durchbruch, gleiche Musterendlos

Der Katalysator: Wie ChatGPT Theorie und Praxis kollidieren ließ

In diesen zyklischen Theoriediskurs platzte Ende 2022 ChatGPT und schuf eine Zäsur. Zum ersten Mal entstand eine breite Überschneidung zwischen dem, was Menschen unter „Künstlicher Intelligenz“ verstanden (geprägt durch Science-Fiction und Popkultur), und dem, was sie tatsächlich selbst erleben und anwenden konnten.

Vor diesem Moment hatten die meisten Menschen KI-Systeme nur indirekt erlebt, etwa durch Verkehrssysteme oder Kaufempfehlungen. Nichts davon wurde in der Regel bewusst als KI wahrgenommen.

ChatGPT änderte das fundamental: Plötzlich konnte jeder, der schon einmal eine Textnachricht verschickt hatte, mit einem System interagieren, das zumindest oberflächlich dem Bild entsprach, das viele von „künstlicher Intelligenz“ im Kopf hatten.

Dieser Moment intensivierte nicht nur den abstrakten Theoriediskurs, sondern öffnete erstmals einen breiten Raum für konkrete praktische Anwendungen und Experimente. Das systematische Problem: Diese beiden Ebenen vermischen sich ständig und behindern sich gegenseitig, ohne dass dies den Beteiligten bewusst ist.

Ein typisches Beispiel: Du willst verstehen, wie ein bestimmtes KI-Tool funktioniert, suchst auf YouTube. Aber du findest ausschließlich Videos, die in Superlativen verkünden, dass damit nun aber wirklich die Superintelligenz Realität ist und sich jetzt alles verändern wird. Du kannst ja mal versuchen, auf Basis von YouTube KI-Agenten zu verstehen. Dazwischen die nüchternen Anleitungen zu finden, ist eine Herausforderung.

Oder: Du stellst in einem Forum eine ganz konkrete technische Frage zu einem Sprachmodell und erhältst statt einer Antwort eine emotionale Tirade über Arbeitsplatzvernichtung oder Energieverschwendung.

Diese Vermischung beider Ebenen – hochtrabender Theoriediskurs und pragmatische Anwendung – hat sich mit dem ChatGPT-Moment nicht aufgelöst, sondern intensiviert.

Raus aus der Theorie, rein ins Tool: Ein Plädoyer für das Konkrete

Was ich mit diesem Artikel vorschlage, mag kontraintuitiv klingen: Es lohnt sich, den abstrakten Theoriediskurs zunächst bewusst auszublenden und zurückzustellen.

Stattdessen plädiere ich dafür, konkrete praktische Erfahrungen im Detail ernst zu nehmen. Dabei durchaus kritisch zu bleiben, zu hinterfragen, zu dekodieren – aber auf einer konkreteren Ebene als der abstrakt-philosophischen.

Mini-Methodenkasten: Der praktische Einstieg

  1. Konkrete Anwendung definieren: Wähle eine überschaubare Aufgabe aus deinem Arbeitsalltag (z. B. Zusammenfassung von Texten, Feedback zu Ideen etc.).
  2. Systematisches Vergleichen: Teste mindestens zwei unterschiedliche Modelle mit identischen Prompts (z. B. bei ChatGPT oder Gemini).
  3. Strukturierte Reflexion: Evaluiere nicht nur die Ergebnisse, sondern auch den Prozess, deine Interaktion und notwendige Anpassungen.

Welches konkrete Vorgänge aus deinem Arbeitsalltag könntest du morgen mit den Sprachmodellen testen?

Meine eigenen Experimente verdeutlichen den Wert dieses Ansatzes:

Beispiel 1: Sprachmodellvergleiche

Ich vergleiche konstant verschiedene Modelle und unterschiedliche Prompting-Varianten, um zu verstehen, wie Sprachmodelle tatsächlich funktionieren. Diese Experimente geben mir ein Gefühl dafür, wie Sprachmodelle als statistische Tools funktionieren, die Textmuster erfassen und reproduzieren, ihn aber nicht „verstehen“ können.

Beispiel 2: Lokale KI-Modelle

Ich experimentiere regelmäßig mit KI-Modellen, die lokal auf meinem eigenen Macbook laufen. Diese Erfahrung gibt mir ein unmittelbares Gefühl für die Prozessorintensität und den Energieverbrauch dieser Systeme.

Wenn ich beobachte, wie mein Computer mit zehn Dokumenten statt zwei kämpft, verstehe ich viel greifbarer, was es bedeutet, wenn Millionen von Anfragen in Rechenzentren verarbeitet werden.

Diese Art von konkreten Erfahrungen erzeugt eine Qualität von Reflexion, die im abstrakten Theoriediskurs oft fehlt. Ich stelle fest, dass Menschen, die sich noch nie tiefer mit diesen Tools auseinandergesetzt haben, Schwierigkeiten haben, konstruktiv über deren Einsatz zu diskutieren.

Mit diesen praktischen Erfahrungen ausgestattet, können wir nun zurück auf die Ebene der theoretischen Diskussion wechseln – allerdings mit einem deutlich veränderten Blickwinkel.

Die Synthese: Wie Praxis die Theorie befruchtet

Meine These: Nur aus der konkreten praktischen Anwendung heraus können wir später sinnvoll in den abstrakten Theoriediskurs zurückkehren. Mit empirisch fundierten Erfahrungen ausgestattet, können wir dann viel produktiver diskutieren und festgefahrene Positionen auflösen.

Max Read bringt genau diesen Gedanken auf den Punkt:

„The more people use A.I. with some regularity, the more broad familiarity they’ll develop with its specific and consistent shortcomings; the more people understand how LLMs work from practical experience, the more they can recognize A.I. as an impressive but flawed technology, rather than as some inevitable and unchallengeable godhead.“

Diese erfahrungsbasierte Entmystifizierung ist genau der Schlüssel, den wir brauchen. Je mehr Menschen regelmäßig mit KI-Systemen arbeiten, desto besser verstehen sie deren spezifische und konsistente Schwächen. Praktische Erfahrung ermöglicht es, KI als das zu erkennen, was sie ist: eine beeindruckende, aber fehlerhafte Technologie und nicht ein unvermeidlicher, unantastbarer Maschinengott.

Wenn wir verstehen, wie diese Systeme tatsächlich funktionieren und wo ihre Stärken und Schwächen liegen und wie sie in unseren Alltag passen oder eben nicht, dann können wir viel differenzierter darüber sprechen. Ist „Automatisierung“ überhaupt der richtige Begriff? Oder ob wir es nicht mit etwas Komplexerem zu tun haben, das sich mit einfachen Schlagworten nicht fassen lässt.

Experimentieren statt Spekulieren: Der Weg zur produktiven Debatte

Als jemand, der den abstrakten Theoriediskurs seit langem beobachtet, muss ich gestehen: Die ständige Wiederholung der gleichen Argumente bringt uns offensichtlich nicht weiter. Es fühlt sich manchmal an, als könnte man jeden neuen Artikel über Künstliche Intelligenz mit einem Sprachmodell generieren: Die Kernargumente sind immer dieselben, nur leicht angepasst und mit anderen Beispielen illustriert.

So kommen wir nicht voran. Die wirklich faszinierenden Entwicklungen finden im Bereich der konkreten praktischen Anwendung und Reflexion statt. Dort entstehen neue Fragen, Erkenntnisse und Perspektiven, die den abstrakten Theoriediskurs bereichern könnten, wenn wir sie denn zulassen würden.

Mein Plädoyer lautet daher: Lasst uns den abstrakten Theoriediskurs kurz pausieren und uns auf konkrete praktische Anwendungen konzentrieren. Um dann, mit neuen Erkenntnissen ausgestattet, eine differenziertere und produktivere Debatte zu führen.

Drei Schritte zur fundierten KI-Diskussion:

  • Experimentieren statt spekulieren: Sammle eigene Erfahrungen mit unterschiedlichen KI-Anwendungen.
  • Erst beobachten, dann bewerten: Dokumentiere systematisch Potenziale und Grenzen in deinem spezifischen Kontext.
  • Verbinden statt trennen: Nutze deine praktischen Erkenntnisse, um den übergeordneten Diskurs zu bereichern.

Hast du Fragen zum KI-Diskurs oder hättest du gerne ein paar Tipps zum praktischen Einsatz von KI-Tools in deinem Kontext? Ich biete jeden Mittwoch kostenlose Office Hours an. Einfach einen 15-Minuten-Slot buchen.


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