Johannes Kleske

Zukünfte verstehen und gestalten

Angela Merkels Mindset – Was ihre Biografie über Deutschlands Gegenwart verrät

KI-generiertes Bild von Angela Merkel

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Ich gebe zu: Als Angela Merkels Autobiografie erschien (Übersicht der Rezensionen), war ich zunächst skeptisch. Als jemand, der ihre Politik oft kritisiert und ihre Partei nie gewählt hat, hatte ich wenig Interesse an einer weiteren politischen Rechtfertigungsschrift. Was mich schließlich zur Lektüre bewegte, war reine Neugier: Wie denkt eine Frau, die 16 Jahre lang als „mächtigste Frau der Welt“ zentrale Rollen in nahezu allen großen Krisen innehatte? Welche Einblicke würde sie in die Prozesse und Entscheidungen geben, die unser aller Leben geprägt haben? Doch je tiefer ich in das Buch eintauchte, desto faszinierender wurde es – aus einem völlig unerwarteten Grund.

Angela Merkels Autobiografie ist weit mehr als die Erinnerungen einer ehemaligen Bundeskanzlerin. Sie ist ein faszinierendes Zeitdokument, das tiefe Einblicke in eine Geisteshaltung gewährt, die Deutschland und seine Institutionen in den letzten zwanzig Jahren geprägt hat – und bis heute prägt. Eine Haltung, die angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen an ihre Grenzen stößt.

Die perfekte Managerin

Was bei der Lektüre ihrer Autobiografie immer deutlicher wird, ist das Denken einer perfekten Managerin. Mit ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund analysiert sie jede Situation präzise und methodisch. Bemerkenswert ist ihre Fähigkeit, Kritik an ihren Entscheidungen klar zu benennen – sie weiß genau, was ihre Gegner ihr vorwerfen, und argumentiert messerscharf, warum sie dennoch diesen und keinen anderen Weg gewählt hat oder wählen konnte.

Ihr ganzes Vorgehen basiert auf einem fast unerschütterlichen Glauben an Prozesse und Regeln. Nicht zufällig zählt „Regeln“ zu den häufigsten Begriffen in ihren Memoiren. Für Merkel sind sie die unverrückbare Grundlage jeder Interaktion, sei es in der nationalen Politik oder in der internationalen Diplomatie. Ein einmal geschlossener Vertrag muss eingehalten werden, unabhängig davon, ob er noch zeitgemäß ist. Verlässlichkeit steht über allem.

Je länger ich las, desto klarer wurde mir: Hier offenbart sich eine Denkweise, die weit über Merkel hinausgeht. Es ist eine Mentalität, die sich wie ein roter Faden durch die deutschen Führungsetagen zieht – von der Politik bis in die Konzernzentralen.

Die Grenzen des Systems

Doch genau hier zeigt sich die fundamentale Schwäche dieses Mindsets: Es hat keine Antwort auf eine Welt, in der sich andere Akteure nicht mehr an die Regeln halten. Wo ein Putin internationale Verträge bricht oder ein Trump etablierte diplomatische Prozesse ignoriert, versagt der Glaube an die Macht von Regeln und Kompromissen. Merkels Autobiografie legt diese Grenze unfreiwillig offen: Sie analysiert das Handeln dieser Akteure zwar präzise, bleibt jedoch ohne strategische Antwort oder ein eigenes, handlungsleitendes Zukunftsbild.

Besonders deutlich wird diese Beschränkung in ihrer Schilderung der Begegnung mit Greta Thunberg und Luisa Neubauer. Als langjährige Verfechterin des Klimaschutzes – sie war die erste „Klimakanzlerin“ und organisierte als junge Umweltministerin die erste COP-Konferenz in Bonn – versteht sie die wissenschaftlichen Argumente der Klimaaktivistinnen gut. Sie kann deren Kritik eins zu eins nachvollziehen. Doch ihre einzige Antwort bleibt: Sie müsse Mehrheiten organisieren.

Diese Szene offenbart den blinden Fleck des Merkelschen Mindsets: Es fehlt die Fähigkeit oder der Wille, vom Ende her zu denken. Die Frage „Wie soll Deutschland übermorgen aussehen und was kann ich heute tun, um dafür morgen Mehrheiten zu haben?“ kommt in ihrem Denken nicht vor. Stattdessen beschränkt sich der Handlungshorizont auf das, was im Hier und Jetzt mehrheitsfähig erscheint. Es ist eine Haltung des Reagierens, nicht des Gestaltens.

Das Erbe wirkt nach

Die Auswirkungen dieses Management-Mindsets sind bis heute spürbar – weit über die Politik hinaus. Wir finden es in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne ebenso wie in mittelständischen Unternehmen und öffentlichen Institutionen. Es ist ein Denken, das Prozessoptimierung und Risikominimierung priorisiert, anstatt mutig neue Wege zu beschreiten.

Besonders deutlich wird dies im aktuellen politischen Diskurs. Ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien zur anstehenden Bundestagswahl zeigt eine erstaunliche Kontinuität Merkel’schen Denkens: Statt Visionen für Deutschlands Zukunft zu entwickeln, erschöpfen sich die Vorschläge in kleinteiligen Anpassungen des Status quo. Hier etwas mehr Geld für bestimmte Gruppen, dort strengere Regeln für andere – das sind Antworten aus der Vergangenheit auf die Herausforderungen der ZukunftGegenwart.

Selbst dort, wo der Handlungsdruck offensichtlich ist, dominiert reaktives Denken. Ob Klimawandel, technologischer Transformation oder geopolitischen Verschiebungen – die Antworten bleiben im bekannten Muster: Probleme werden analysiert, Interessengruppen konsultiert, Kompromisse gesucht. Was fehlt, ist der Mut zu fragen: Wie wollen wir eigentlich leben? Welche Zukunft wollen wir aktiv gestalten?

Ein Wandel, den die Politik nicht wahrhaben will

Die Kluft zwischen politischen Antworten und gesellschaftlicher Realität könnte kaum größer sein. In Betrieben, Vereinen und Nachbarschaften diskutieren die Menschen über die fundamentalen Umbrüche unserer Zeit: Was, wenn die aktuelle Wirtschaftsflaute nicht nur vorübergehend ist, sondern den Beginn einer strukturellen Krise der deutschen Wirtschaft markiert? Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, in der schon heute viele Menschen an ihre finanziellen Grenzen stoßen?

Noch tiefgreifender sind die tektonischen Verschiebungen im globalen Denken: Die Wiederwahl Trumps ist weniger ein singuläres Ereignis als vielmehr Ausdruck einer grundlegenden Wende – weg von einer regelbasierten internationalen Zusammenarbeit hin zu einem System, das klassische deutsche Stärken wie Kompromissfähigkeit und Multilateralismus grundsätzlich in Frage stellt. Die Menschen spüren, dass wir vor einer Zeitenwende stehen, die vom KI-getriebenen Transformation der Arbeitswelt bis zur Neuordnung der globalen Machtverhältnisse reicht. Doch während sie nach grundsätzlichen Antworten suchen, scheint die Politik sich nicht einmal zu trauen, die richtigen Fragen zu stellen.

Von Visionären überrollt

Während die deutsche Politik weiterhin auf Prozessoptimierung und Kompromisse setzt, tritt eine neue Art von Akteur in den Vordergrund: Visionäre wie Elon Musk, deren Handeln von radikalen Zukunftsbildern geprägt ist. Musk ist überzeugt, dass die Menschheit ihren Fortbestand durch interplanetare Expansion sichern muss, und gestaltet sein Leben und seine Unternehmen konsequent um dieses Ziel herum.

Musks Vision und sein regelbrechendes Verhalten werfen jedoch fundamentale Fragen auf. Seine kompromisslose Orientierung an einer Zukunft, die technologischen Fortschritt über demokratische Prinzipien stellt, ist zutiefst problematisch. Musk ignoriert bewusst gesellschaftliche Normen und staatliche Regulierungen, wenn sie seiner Mission im Weg stehen. Dieses Verhalten ist nicht nur undemokratisch, sondern zeigt auch eine gefährliche Missachtung der gemeinschaftlichen Werte, die eine pluralistische Gesellschaft zusammenhalten.

Genau hier zeigt sich die Schwäche des Merkel-Mindsets und seines Erbes: Einer Politik, die vor allem auf Verlässlichkeit und Mehrheiten setzt, fehlt die Sprache und die Strategie, um solchen Ansätzen etwas entgegenzusetzen. Statt die disruptiven Herausforderungen von Akteuren wie Musk als Anlass zu nehmen, eigene Zukunftsbilder zu entwickeln, bleibt die Reaktion oft bei moralischer Empörung stehen.

Doch Empörung allein reicht nicht aus. Was fehlt, ist nicht nur ein Gegennarrativ, sondern eine demokratische Vision, die ambitioniert genug ist, um disruptive Herausforderungen zu begegnen – eine Vorstellung davon, wie wir leben wollen, die mehr ist als die Verwaltung der Gegenwart.

Eine Frage der Haltung

Die Lektüre von Angela Merkels Autobiografie zeigt eindringlich, dass wir jetzt eine neue Haltung zur Zukunft benötigen. Statt Risiken zu minimieren und auf Sicherheit zu setzen, müssen wir paradoxerweise Risiken eingehen, um Bewahrenswertes zu erhalten. Denn in einer sich rasant verändernden Welt ist Nicht-Handeln das größte Risiko.

Putins neoimperiale Fantasien oder Trumps rückwärtsgewandte Visionen lassen sich nicht durch besseres Management eindämmen. Ihnen fehlt das Gegenstück: eine kraftvolle, demokratische Vision von morgen, die Menschen inspiriert und mobilisiert. Eine Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft aussehen kann, die Wohlstand, Nachhaltigkeit und individuelle Freiheit miteinander verbindet.

Das Merkel-Mindset hat ausgedient – nicht weil es falsch war, sondern weil sich die Welt grundlegend verändert hat. In einer Zeit, in der die großen Fragen unserer Existenz neu verhandelt werden, reicht es nicht mehr aus, bestehende Prozesse zu optimieren. Deutschland braucht keine perfekten Manager mehr, sondern mutige Gestalter. Die Frage ist nicht mehr, wie wir den Status quo am besten verwalten, sondern welche Zukunft wir aktiv gestalten wollen.

Ergänzung (7.1.2025)

Auf LinkedIn wurde ich nach meiner Antwort für eine „kraftvolle, demokratische Vision von morgen, die Menschen inspiriert und mobilisiert“ gefragt.

Hier ist meine Reaktion:

Die Antwort auf diese Frage ist der Kernantrieb meiner Arbeit und beschäftigt mich schon seit Jahrzehnten. Für mich müsste eine kraftvolle, demokratische Vision mehrere Ebenen verbinden: soziale Gerechtigkeit, ökologisches Gleichgewicht und technologischen Fortschritt, der dem Gemeinwohl dient. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass solche Visionen nicht allein ausgedacht werden können – sie müssen in einem breiten gesellschaftlichen Dialog entstehen.

Eine demokratische Vision von morgen könnte von Initiativen wie Doughnut Economics inspiriert sein, die ökologische und soziale Grenzen vereinen, oder von Bürger*innenversammlungen wie dem Klimarat, die zeigen, wie partizipative Demokratie neue Wege eröffnen kann.

Zwei Punkte halte ich dabei für elementar:

  1. Plastische Zukunftsbilder statt abstrakter Visionen.
    Wir brauchen mehr als abstrakte Schlagworte. Eine Vision wird erst kraftvoll, wenn sie konkrete Zukunftsbilder enthält, die unseren Alltag im Detail beschreiben. Wie sieht ein typischer Tag in einer nachhaltigen, gerechten Gesellschaft aus? Erst wenn wir uns dieses Leben plastisch vorstellen können, wird in uns die Energie freigesetzt, es Wirklichkeit werden zu lassen.
  2. Proaktives Denken statt reaktiver Problemlösung.
    Wenn wir nur „Antworten“ oder „Lösungen“ suchen, bleiben wir im Reaktiven gefangen. Stattdessen müssen wir mit „Was wäre, wenn …“ beginnen: Welche Zukunft wollen wir aktiv gestalten? Und welche Schritte können wir heute unternehmen, um sie wahr werden zu lassen?

Diese beiden Ansätze – plastische Zukunftsbilder und proaktives Denken – sind für mich der Schlüssel zu einer Vision, die nicht nur inspiriert, sondern auch mobilisiert.


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